Gedenkrede zum 80. Jahrestag der Errichtung des Zwangslagers für Sinti und Roma in Marzahn am 12. Juni 2016

10. Juli 2016

Hans Coppi: Gedenkrede zum 80. Jahrestag der Errichtung des Zwangslagers für Sinti und Roma in Marzahn am 12. Juni 2016

Das vor 80 Jahren errichtete Zwangslager in Marzahn reiht sich ein in die Jahrhunderte währende Verfolgung von Roma und Sinti, einer noch bis heute in vielen Ländern Europas diskriminierten Minderheit. Bei einer Audienz im September 1992 ermutigte der Papst Johannes Paul II. die Roma, die Grundlagen ihrer Geschichte zu erforschen: „Ihr bildet eine Minderheit“, sagte er, „die keine territorialen Grenzen kennt und die den bewaffneten Kampf, um sich durchzusetzen, stets abgelehnt hat.“

Schon seit dem Mittelalter erregten die schwarzhaarigen, dunkelhäutigen Fremdlinge, unbehaust, seltsam gekleidet, eine niemanden verständliche Sprache gebrauchend, starkes Aufsehen. Häufig mit ihren Familien und Wagen unterwegs, tauschten und verkauften sie. Ihr Gesang ließ aufhorchen. Ihre Frauen waren begehrte Wahrsagerinnen. Als Flüchtlinge vor den Türken erhielten sie Anfang des 15. Jahrhunderts an einigen Orten Almosen (Lebensmittel), Schutz- und Geleitbriefe, Zeichen einer frühen Willkommenskultur, die nicht lange anhielt. Bald galten sie als türkische Spione, und der Reichstag stellte sie 1498 außerhalb jeden Rechts. Freiwild, jederzeit und von jedem konnten sie vertrieben, beraubt und getötet werden.

Lustig war das Zigeunerleben nur selten. Die aus ihrem selbstbestimmten Leben resultierende Unabhängigkeit und Mobilität machten sie verdächtig, bald reichte als einziger Grund, sie zu verfolgen, Zigeuner zu sein. Die rassistischen Zigeuneredikte verloren nach der Französischen Revolution an Wirkung und lebten Ende des 19. Jahrhunderts erneut auf. Viele Roma und Sinti waren nicht bereit, sich als Lohnarbeiter in Fabriken zu verdingen und ausbeuten zu lassen. Sie wollten ihr bisheriges freies Leben im Familienverbund weiterführen. Nicht nur im behördeninternen Jargon galt das fahrende Volk als sogenannte „Zigeunerhorden“ und „Parasiten“, die durch den 1899 gegründeten „Zigeuner-Nachrichten-Dienst“ bei der Polizeidirektion München registriert wurden. Bereits 1905 lag das erste „Zigeunerbuch“ der bayerischen Kriminalpolizei mit 3350 namentlichen Eintragungen vor.

Die eigentlich freiesten Menschen wurden neben den Anarchisten zur bestüberwachten Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Während der Münchener Räterepublik flogen die „Zigeuner-Akten“ aus den Fenstern und landeten jedoch nur für kurze Zeit auf dem Müll. Unter dem Vorzeichen der an deutschem Blut und Boden orientierten braunen Rassenideologie konnte der schon seit Kaiserzeiten bestehende „Zigeunernachrichtendienst der Kriminalpolizei“ von 1933 bis 1945 seine Tätigkeit nicht nur fortführen, sondern auch weiter ausbauen. Die als „Rassenhygiene“ bezeichnete Lehre führender Anthropologen erlebte eine pseudowissenschaftliche Konjunktur. Das Naziregime konnte am den seit Jahrhunderten geschürten Zigeunerhass eines großen Teils der Bevölkerung anknüpfen. Rassistisches Denken und die Diskriminierung der Sinti und Roma als Arbeitsscheue, Asoziale und Kriminelle verfestigten die Vorurteile.

Vor diesem Hintergrund bemühte sich seit 1934 das Berliner Hauptwohlfahrtsamt in Abstimmung mit der NSDAP-Gauleitung, dem Rassenpolitischen Amt und der Polizei, der vermeintlichen „Zigeunerplage“ Herr zu werden. Von der von angeblich zahlreichen „ungeordneten Zigeunerlagern“ auf privaten Grundstücken ausgehenden ernsten Gefahr für die Volksgesundheit wurde gewarnt und vorgetäuschte sittliche Gefahren insbesondere für Jugendliche beschworen. Mit der Olympiade bot sich ein Anlass, die unerwünschten Roma und Sinti Berlins in einem Zwangslager zusammenzufassen.

Am 16. Juli 1936 und den Folgetagen wurden an die 600 Frauen, Männer und Kinder aus ihren Wohnwagen und Wohnungen geholt. Tagelang rollten Planwagen – eskortiert von der Polizei – zu dem sogenannten „Zigeunerrastplatz Marzahn“. Dort waren die erst im Mai begonnenen Planierarbeiten des Geländes noch nicht beendet. Viele Sinti- und Roma-Familien, die in festen Häusern lebten, mussten wegen mangelnden Unterbringungsmöglichkeiten unter Wohnwagen, in schnell aufgebauten morschen Baracken des Arbeitsdienstes oder in selbst errichteten Buden aus Wellblech und Pappe leben. Das auf früheren Rieselfeldern errichtete Gelände sollte ein ständiges Provisorium bleiben.

Für die Sinti bedeutete das Marzahn-Lager mit seinen Schikanen eine tägliche Erniedrigung, eingezwängt zwischen den Toten auf dem Marzahner Friedhof, der seit 1909 auch als Berliner Armenfriedhof fungierte, und den Fäkalienabwässern der Rieselfelder. Das städtische Wohlfahrtsamt als Betreiber nahm auf die Sitten und Reinheitsgebote der Sinti keine Rücksicht. Vor allem abends und bei entsprechenden Wetterlagen verbreiteten sich unerträgliche Dünste. Unter diesem Gestank wuchsen die Kinder auf. Das Wasser aus den drei 1936 installierten Brunnen war ungenießbar. Fehlende Wasch- und Kochgelegenheiten waren für die Frauen eine große Belastung und die sanitären und hygienischen Bedingungen katastrophal. Auf ca. 600 Insassen kamen nur zwei Toilettenwagen. Viele erkrankten. Bis März 1938 musste das Hauptwohlfahrtsamt 170 Krankenhausaufenthalte bezahlen. Im März 1939 stellte das Gesundheitsamt zahlreiche Fälle von Scharlach, Diphterie und Tuberkulose fest. An die 100 Frauen, Männer und Kinder sind an den schlimmen sanitären und hygienischen Bedingungen, an unzureichender Versorgung, an Hunger und Kälte und anderen Krankheiten verstorben. Auf dem Marzahner Friedhof finden sich noch einige Grabstellen. Das Trinkwasser musste aus einer zwei Kilometer entfernten Wasserstelle in der Dorfmitte Marzahns geholt werden. Auch zum Einkaufen waren die Frauen gezwungen, nach Marzahn zu laufen. Dort angekommen, schlug ihnen nicht selten Hass entgegen. Die Ablehnung ging so weit, dass manche Händler ihnen nur widerwillig ein paar Essensreste verkauften. Viele Internierte lernten den Hunger als ständigen Begleiter kennen.

Für die Wandergewerbetreibenden bedeutete die erzwungene Sesshaftigkeit den finanziellen Ruin. Für Jugendliche und Erwachsene bestand Arbeitszwang. Als Zwangsarbeiter mussten sie jede gering bezahlte Arbeit annehmen, die das Arbeitsamt ihnen zuwies, zum Teil mit langen Anfahrtswegen.

Obwohl das Lager nicht umzäunt war, kontrollierten die dort eingesetzten Polizisten am Eingang mit harter Hand, wer kam und ging: nach 22 Uhr bestand eine Ausgangssperre. Wer gegen die Vorschriften des Lagers verstieß, bekam es mit dem Gummiknüppel oder den scharfen Hunden der Wachmannschaften zu tun. „Im Grunde lebten wir dauernd in Angst“, erinnerte sich Oskar Böhmer, „wir hatten Angst vor Polizisten, vor den Dorfbewohnern, irgendwie vor allem.“ Die Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Den Aufenthalt in dem Lager erfuhren die Insassen als immerwährenden Gewaltakt.

Seit dem Erlass Himmlers vom 16. Dezember 1937 galten alle Zigeuner als „asozial“, konnten jederzeit in Vorbeugungshaft genommen und in Konzentrationslager eingewiesen werden. Im Juni 1938 wurden im Rahmen der reichsweiten Aktion „Arbeitsscheu Reich“ über 6.000 von der Kriminalpolizei als „asozial“ bezeichnete Personen in die KZ Sachsenhausen und Ravensbrück verschleppt. Darunter befanden sich über 200 – überwiegend Männer – aus dem Lager Marzahn. Dies führte dazu, dass der „Rastplatz“ zeitweise überwiegend von Frauen, Kindern und Alten bewohnt wurde. Es waren immer wieder die Familien, in denen die Insassen unter katastrophalen Verhältnissen Geborgenheit und Schutz gefunden haben. Das Leben ging weiter, es wurde auch gelacht, gesungen, gefeiert, getrauert und geliebt. Kinder kamen zur Welt, Hoffnungszeichen in einer trostlosen Welt.

Für alle Insassen war dieses Leben schlimm, besonders aber für die Kinder. Sie durften die Volksschule in Marzahn nicht besuchen. Ein Lehrer unterrichtete die Kinder in einer Schulbaracke, bis er 1939 eingezogen wurde. Damit endete der Unterricht. Viele Kinder blieben Analphabeten. Gelegentlich kümmerten sich Hilfsorganisationen der Katholischen und evangelischen Kirchen um die Kinder, spielten mit ihnen und versorgten sie mit Essen. Oft mussten die Heranwachsenden als 13- oder 14-Jährige schon für die Familie sorgen, wenn die Eltern deportiert, krank oder gestorben waren. Eine Berufsausbildung war ihnen versperrt. Bald wurde ihnen ihre Lebensmittelkarte für Schwerarbeiter gestrichen, obwohl sie zwangsverpflichtet schwerste Arbeiten verrichten mussten. Seit 1942 waren sie den Juden gleichgestellt und durften nicht mehr am Gemeinschaftsessen teilnehmen. Einige Kollegen steckten den Jugendlichen hin und wieder Essen zu.

In der von Petra Rosenberg kuratierten Ausstellung finden sich Farbfotos von Untersuchungen an Insassen im Lager und in der 1936 gegründeten Rassenhygienischen Forschungsstelle unter Leitung von Robert Ritter. Die umfangreichen Befragungen begannen mit vorgetäuschten Freundlichkeiten, mit Süßigkeiten, Kuchen und Kaffee als Grundlage, um das Misstrauen der Befragten zu überwinden, später auch unter Androhung und Anwendung von Gewalt.

In den Ausführungsbestimmungen der Gestapo zu einem Erlass Himmlers zur „Zigeunerplage“ im April 1939 heißt es, dass bei der endgültigen Lösung der Zigeunerfrage die reinrassigen Zigeuner und die Mischlinge besonders zu behandeln seien. Ritters Institut begutachtete bis 1945 fast 24.000 Menschen, um sie als „Voll-Zigeuner“, „Zigeuner-Mischling“ oder „Nicht-Zigeuner“ zu klassifizieren. Die „gutachtlichen Äußerungen“ der Forschungsstelle spielten eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über eine Sterilisation und über die Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz am 31. März 1943. Dort wurden die meisten Bewohner des Zwangslagers ermordet. Der schwangeren Sintezza Elisabeth Lehmann gelang es, mit ihrem Kind zu fliehen und in Marzahn Unterschlupf zu finden. Im Lager Marzahn verblieben die „reinrassigen Zigeuner“. Zwei Dutzend fast verhungerte Insassen wurden am 27. April 1945 von der Roten Armee befreit.

Im Gegensatz zu den Konzentrations- und Arbeitserziehungslagern, den Lagern für Zwangsarbeiter charakterisiert Wolfgang Wippermann das „Zigeunerlager“ als „wildes“ Lager, das keinen durch staatliche Behörden legitimierten Charakter hatte. Es sollte bis 1945 ein Provisorium bleiben. Viel spricht dafür, dass die enge Verknüpfung mit der von Himmler protegierten rassenpolitischen Forschungsstelle dem Lager Marzahn den Sonderstatus eines Ausnahmelagers bewahrte.

Die erst sehr spät aufgearbeitete Geschichte des Zwangslagers ist auch Ausdruck des Desinteresses in West und Ost an dem Schicksal der Sinti und Roma. Heute ist das Zwangslager ein Beispiel, ein Symbol, ein Lernort für den alltäglichen Faschismus. Ich möchte allen danken, die sich für die Wiederentdeckung dieses Gedenkortes eingesetzt haben. Reimar Gilsenbach, der sich seit Mitte der 1960er Jahre für die Erinnerung an die Roma und Sinti engagierte, konnte mit Pfarrer Bruno Schottstädt 1986 den vom Magistrat gestifteten Gedenkstein einweihen. Eine bereits in den 1970er Jahren von dem Berliner Bildhauer Werner Stötzer geschaffene Skulptur mit dem Titel „Zigeuner in Marzahn“ wurde im April 1992 im Rathaus Marzahn aufgestellt. Sie befindet sich jetzt in der Mark-Twain-Bibliothek, auf der Marzahner Promenade 52-54.

Nach den Aufsätzen von Reimar Gilsenbach und Wolfgang Wippermann zum Zwangslager in der Zeitschrift „Pogrom“ im Jahre 1987 folgten nach 1990 weitere Veröffentlichungen von Wolfgang Benz und Patricia Pientka. Otto Rosenberg setzte sich als Vorsitzender der Cinti Union Berlin nach1990 für einen Gedenkort in Marzahn ein, der mit dem 2011 eröffneten Ort der Erinnerung und Information Gestalt angenommen hat. Petra Rosenberg entwickelte und erarbeitete die Ausstellung und ist immer wieder mit Jugendlichen bei Führungen durch die Ausstellung und bei Lesungen aus dem Buch ihres Vaters im Gespräch.

Wir gedenken heute der in diesem Zwangslager internierten Kinder, Frauen, Männer, der Verstorbenen, der in Konzentrations- und Vernichtungslagern Ermordeten und auch der Überlebenden. Sie mussten nach der Befreiung um ihre Anerkennung als Opfer des Faschismus ringen. Manchmal war es die Unkenntnis über das Lager. Oft wurden die Überlebenden mit der Frage konfrontiert, welche Leiden die Antragsteller auf dem „Rastplatz Marzahn“ erlitten hätten, nach dem Motto: es war doch kein KZ. Überleben war für die Insassen jeden Tag ein Kampf um ihre Würde, um Essen, Hygiene, das Zusammenleben in ihrer Familie, die Pflege der Kranken und Alten, die Erziehung und der Trost der Kinder, das Weiterzählen der Geschichten und der Geschichte von den Sinti und Roma, wie sie vor Jahrhunderten aus dem fernen Indien und Ägypten durch die Türkei nach Europa kamen. Wenn Selbstbehauptung Widerstand war, dann bedeutete für die im Zwangslager Marzahn internierten Sinti und Roma jeder Tag Leben, der Gewalt zu widerstehen.

Heute sind die Roma und Sinti eine anerkannte Minderheit in Deutschland. Immer wieder zeigen Umfragen, wie tief rassistisches Denken in der Gesellschaft verankert ist. Die meisten wissen nichts von dem Schicksal der Roma und Sinti, lehnen aber die vermeintlichen „Zigeuner“ ab. Bei Pegida-Aufmärschen fordern Teilnehmer drastische Maßnahmen gegen „kriminelle Zigeuner“ und beklagen, dass zu viele „Zigeuner“ im Land seien. Diese völkische und nationalistische Hetze ist auch in der AfD verbreitet und wendet sich vor allem gegen ein Asyl für in anderen Ländern verfolgte Roma.

Zu der Vielfalt in unserem Land gehören die Sinti und Roma, sie waren und sind Arbeiter und Angestellte, Musiker, Journalisten, Juristen, bekannte Boxer wie „Rukeli“ Trollmann und vieles mehr. Ihre Geschichte und Kultur hat den europäischen Kontinent und auch Deutschland bereichert.

Seit die ethnisch konstruierten Nachfolgestaaten Jugoslawiens zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt wurden, haben die Roma als „Balkanflüchtlinge“ keine Chance mehr, in Deutschland Asyl zu finden. Was dabei nicht berücksichtigt wird: Serbien, Kroatien oder Kosovo mögen für Serben, Kroaten oder Albaner sichere Herkunftsländer sein, für Roma nicht! Sie fliehen vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Entrechtung. Zu Wohnung, Bildung, Gesundheitsfürsorge – also zu den minimalsten Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens – haben sie oft keinen Zugang. Geschätzte 100.000 der Ermordeten wurden im besetzten Jugoslawien umgebracht: Tausende von ihnen starben als Geiseln der Wehrmacht, jeweils 100 von ihnen wurden für einen von Partisanen getöteten Soldaten erschossen. Mindestens 30.000 Roma wurden unter deutscher Besatzung allein im KZ Jasenovac von kroatischen Faschisten ermordet. Praktisch keine Familie blieb verschont.

Die heute in Deutschland Schutz Suchenden sind fast alle Nachkommen der Opfer. Die heutige Verfolgung von Roma-Minderheiten in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist in zahlreichen Dokumentationen bestens belegt und bekannt, auch der Bundesregierung!

Auch vor diesem Hintergrund erklärt sich die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) solidarisch mit den Aktionen der Roma aus Hamburg für ein Bleiberecht in Deutschland. Keine Abschiebung, sondern solidarische Unterstützung und praktische Hilfe für die betroffenen Frauen, Männer und Kinder sind das Gebot der Stunde.

Dr. Hans Coppi, Historiker und Vorsitzender der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.

http://www.sinti-roma-berlin.de/sites/Ort-der-Erinnerung-und-Information/index.html