Appell von Überlebenden zur Unterstützung von ehemaligen Ghetto-Insassen

27. Januar 2016

Oswiecim, den 27. Januar 2016

Roman Kwiatkowski, Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen Marian

Kalwary, Bevollmächtigter des Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen

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Während des Zweiten Weltkrieges verband die Juden und die Roma ein gemeinsames Schicksal. Unsere beiden Minderheiten wurden durch gnadenlose Ausnutzung der Vernichtung preisgegeben. Einen Abschnitt dieses Leidensweges bildeten die Ghettos. In Anbetracht der schweren Lebensbedingungen in den Ghettos verrichteten die dorthin deportierten Jüdinnen und Juden sowie Roma und Romni aus eigenem Willensentschluss Beschäftigungen, die oft mit Lebensmitteln entlohnt wurden. Dies traf auch auf Kinder zu, deren Beschäftigung angesichts der Besatzungsrealität an der Tagesordnung war.

Solche freiwilligen Beschäftigungen in Ghettos wurden sehr lange aus der Berechnung der zustehenden Rentenleistungen ausgeschlossen. Infolge der Entscheidung des Bundessozialgerichtes(BSG) von 1997 haben jüdische Organisationen wie die Vereinigung der Jüdischen Kombattantinnen undKombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkrieges und der Verein der Roma in Polen diesesThema zur Sprache gebracht. Nach mehreren Interventionen und Urteilen des Bundessozialgerichts wurdedas Problem von der deutschen Regierung erkannt und 2002 in einem Gesetz zur Zahlbarmachung vonRenten aus Beschäftigungen in Ghettos (ZRBG) verankert. Ehemalige Ghetto-Beschäftigte mit Wohnsitz in Polen konnten jedoch weiterhin keine Ghetto-Renten nach dem ZRBG in Anspruch nehmen. Dies änderte sich erst im Dezember 2014 mit der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Abkommens zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind. Das ZRBG verweist dabei auf rentenrechtliche Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI), womit als Bedingung für die Ghetto-Renten eine Mindestversicherungszeit von 60 Monaten vorgelegt werden muss (zusammengesetzt aus Beitrags- und Ersatzzeiten). Die Anerkennung sogenannter Ersatzzeiten wegen Verfolgungsmaßnahmen wie z.B. das Tragen eines Davidssterns, das Leben im Versteck oder ein Aufenthalt im Arbeits- oder Konzentrationslager ist jedoch an die Vollendung des 14. Lebensjahres geknüpft. Die übrigen anrechenbaren Zeiten sind sogenannte Beitragszeiten, also Zeiten, in denen eine Beschäftigung ausgeübt wurde. Diese Bedingung ist aufgrund der Geschichte der Roma-Diskriminierung in Europa und der daraus folgenden spezifischen Lebensweise der Roma von besonderer Bedeutung. Aufgrund der Mehrfachdiskriminierung und mangelnder gesellschaftlicher Inklusion waren Roma nach der Befreiung selten in geregelten Betrieben beschäftigt,die Beiträge an die polnische staatliche Sozialversicherung ZUS abführten. Daraus ergeben sich anerkennungsrechtliche Probleme. Dies bedeutet in der Praxis, dass auch im Falle der Anerkennung der Ghetto-Beschäftigung einer Person durch deutsche Rentenversicherungsträger, die z.B. als kleines Kind im Ghetto einer freiwilligen Beschäftigung nachging, eine Ghetto-Rente verweigert wird, wenn diese nicht die erforderlichen 60 Monate betragen hat. Lücken in der Wartezeit können nur dann durch Ersatzzeiten aufgefüllt werden, wenn die Betroffenen nach Verlassen des Ghettos im Versteck lebten, und bis Ende des Jahres 1949 mindestens das 14. Lebensjahr vollendet haben bzw. nach der Befreiung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufnahmen. Die Schwelle des 14. Lebensjahrs greift demnach nicht, wenn es um die Anerkennung der Arbeit von Kleinkindern in Ghettos geht, doch sie greift für die Zeit, in der dieselben Personen, nach dem Verlassen des Ghettos, weiter verfolgt wurden. Dann werdendie Ersatzzeiten von den deutschen Rentenversicherungsträgern nicht mehr anerkannt. Darüber hinaus können auch Beschäftigungszeiten nach der Befreiung oft nicht anerkannt werden, da viele Romaaufgrund der Mehrfachdiskriminierung und mangelnden gesellschaftlichen Inklusion traditionellen,Roma-Berufen nachgingen oder – sowohl im Falle von Jüdinnen oder Romni – sich der Kindererziehung widmeten.

Eine Ursache der Probleme liegt zweifelsohne in der engen Interpretation der SGB Vorschriften bei der Berechnung der Ghetto-Renten, die von der besonderen Verfolgungsrealität der Juden sowie Romawährend der Shoah und dem Porajmos abstrahieren und rentenrechtliche Bestimmungen, die für„normale“ Lebensbedingungen geschaffen wurden, auf die Zeit der brutalen Vernichtung der Juden und der Roma streng anwenden. Ein weiterer Grund ist aber auch die Inkonsistenz zwischen der im ZRBG verankerten Absicht des Gesetzgebers, alle Verfolgten, die in einem Ghetto auf Grund eines eigenen Willensentschlusses entgeltlich beschäftigt gewesen sind, in die deutsche Rentenversicherung einzubeziehen und den Vorschriften des SGB in Bezug auf die sogenannten Ersatzzeiten.

Das in diesem Zusammenhang häufig vorgebrachte Argument, dass im sog. Dritten Reich für Kinder bis Ende des 14. Lebensjahrs eine Schulpflicht bestand, greift in diesem Fall nicht, da diese Pflicht nur für deutsche Kinder galt. Jüdische und Roma-stämmige Kinder waren jedochvom Besuch staatlicher Schulen ausgeschlossen, sie wurden häufig sogar schon vor Vollendung des 14. Lebensjahrs zur Arbeit herangezogen.   Wir wollen versuchen, diese Situation zu ändern. Dies ist von besonderer Bedeutung im Hinblick auf Personen, die infolge einer solchen engen Interpretation von Rechtsvorschriften und der Inkohärenz zwischen einzelnen Gesetzen ihren Anspruch auf Leistungen verlieren. Diese Angelegenheit ist umso wichtiger, als sie nur eine kleine Gruppe älterer Menschen betrifft, von denen viele sich in einem schlechten gesundheitlichen Zustand und einer schwierigen finanziellen Lage befinden.

Im Hinblick auf die Einzigartigkeit der Geschichte des Holocaust und des Porajmos, für den die Bundesrepublik „die immerwährende Verantwortung, das Erinnern wach zu halten“ übernehmen möchte (vgl. Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel zum 70. Jahrestag des Auschwitz-Befreiung http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/01/2015-01-26-merkel-gedenkenauschwitz.html) und angesichts der geringen Anzahl der Überlebenden der planmäßigen deutschenVernichtungspolitik, sind wir der Meinung, dass die Anerkennung der Ghetto-Beschäftigung auch gegenüber damals als Kinder im Ghetto beschäftigten Personen, ein wichtiger Akt der Widergutmachung und der Übernahme historischer Verantwortung darstellen würde.

Wir sehen zwei Lösungsmöglichkeiten, in dieser schwierigen Situation– ein Abweichen von der engen Auslegung der bestehenden Vorschriften im SGB VI durch die deutschen Rentenversicherungsträger oder eine Novellierung des ZRBG, um die rentenrechtlichen Vorschriften, wiebereits 2014 geschehen, zu präzisieren. Daher rufen wir die Bundesregierung auf, sich für die Überlebenden der Ghettos einzusetzen und bitten insbesondere um Unterstützung unseres Anliegens durch alle Menschen guten Willens, die unseren Kampf, um die Menschenwürde unterstützen. Wir begrüßen dabei ausdrücklich das Abgeordnete des Deutschen Bundestages dieses Anliegen im Herbst 2015 in denBundestag eingebracht haben und rufen alle Mitglieder des Bundestages dazu auf, sich fraktionsübergreifend für eine Lösung der beschriebenen Probleme einzusetzen.

Oswiecim, den 27. Januar 2016

Roman Kwiatkowski, Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen

Marian Kalwary, Bevollmächtigter des Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen