Offener Brief an den Vorstand der Deutschen Bahn und Bundesverkehrsminister Volker Wissing

8. Oktober 2024

Erstellt am 8. Oktober 2024

Hamburg, 08. Oktober 2024

Sehr geehrter Herr Dr. Richard Lutz, sehr geehrter Herr Bundesminister Wissing,

Salo Muller

mein Name ist Salo Muller. Ich bin 88 Jahre alt, niederländischer Staatsangehöriger und jüdischer Überlebender des Holocausts. Ich bin Autor und war früher Physiotherapeut bei Ajax Amsterdam. Vor 82 Jahren wurden meine Eltern, Louis und Lena Muller, wie Tausende weitere Juden, Sinti und Roma, mit Zügen der Deutschen Reichsbahn aus den Niederlanden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Diese schrecklichen Ereignisse verfolgen mich bis heute. Das Verbrechen an ihnen wurde nie gesühnt. Deshalb fordere ich von Ihnen finanzielle Entschädigung und eine ernst gemeinte Entschuldigung für alle niederländischen Überlebenden der Deportationen und für die Angehörigen der Ermordeten.

Im Januar dieses Jahres hatte ich das erste Mal die Gelegenheit, in Deutschland öffentlich zu sprechen. Ich habe meine Geschichte in Hamburg erzählt, um das Bewusstsein für das Leid, das uns widerfahren ist, zu schärfen. Meine Eltern wurden 1942 gefangen genommen und zusammen mit vielen anderen Juden in der Hollandsche Shouwburg in Amsterdam festgehalten. Als kleiner Junge musste ich zusehen, wie sie von Soldaten weggerissen und in einen überfüllten Waggon gesteckt wurden. Der Schmerz, den ich an diesem Tag fühlte, wird mich mein Leben lang begleiten. Dieser wird verstärkt durch den Schmerz darüber keine, wenn auch nur symbolische, Gerechtigkeit erfahren zu haben.

Ich appelliere an die Deutsche Bahn AG und an die Bundesregierung ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Die Reichsbahn, als Vorgängerin der Deutschen Bahn, hat maßgeblich zur Durchführung der Deportationen beigetragen und davon profitiert. Die Opfer mussten sogar die Tickets selbst bezahlen. Es ist höchste Zeit, dass auch die Deutsche Bahn AG einen Beitrag leistet, um das unermessliche Leid, das uns zugefügt wurde, zumindest teilweise zu lindern und sich als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn ihrer Verantwortung zu stellen.

Im Jahr 2019 entschlossen sich die Niederländischen Eisenbahnen (Nederlandse Spoorwegen) an die Hinterbliebenen der Ermordeten und an die Überlebenden der Deportationen Entschädigungszahlungen zu leisten. Dieses Einlenken geht auf meine Initiative zurück und hat mir gezeigt, dass späte und symbolische Gerechtig-keit möglich sind, wenn die Bereitschaft zur Verantwortungsannahme und Wiedergutmachung besteht. Diese bestand bei den Niederländischen Eisenbahnen.

Diese Bereitschaft erwarte ich auch von der Deutsche Bahn AG. Als Rechtsnachfolgerin der Deutschen Reichsbahn muss die Deutsche Bahn AG erst recht zahlen und darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen, denn die Deutsche Reichsbahn war die Haupttäterin der Deportationen. Ohne ihr Zutun wäre der Holocaust nicht durchführbar gewesen. Die Niederländischen Eisenbahnen deportierten die Menschen bis zur deutschen Grenze nach Nieuweschans, von dort wurden die Züge von deutschen Lokomotiven direkt nach Auschwitz gefahren.

Die Deutsche Bahn AG hat das Vermögen der Reichsbahn übernommen. Sie kann daher nicht leugnen, auch für deren Schulden einstehen zu müssen. Es geht hierbei nicht nur um eine finanzielle Schuld, sondern auch um moralische Verantwortung. Die Deutsche Bahn hätte diese Möglichkeit, sie verfügt über die finanziellen Mittel und keine Rechtsvorschrift hindert sie daran Zahlungen an die Opfer zu tätigen.

Im Juli dieses Jahres leistete die Deutsche Bahn AG eine großzügige Spende an die Holocaustgedenkstätte in Yad Vashem. Diese Spende zeigt, dass die Deutsche Bahn AG ein Bewusstsein ihrer Verantwortung für die Verbrechen der Deutschen Reichsbahn hat. Und doch verfehlen diese Zuwendungen das eigentliche Ziel der Gerechtigkeit und Anerkennung des erlittenen Leids.

Was als Geste des Engagements erscheinen mag, wirkt auf uns Betroffene wie ein Schlag in die Magengrube, da die konkreten Opfer bis heute nicht angemessen entschädigt wurden. Vielmehr sollte die Deutsche Bahn auf die Bedürfnisse der Hinterbliebenen und Überlebenden eingehen und mit uns über eine Lösung sprechen.

Auch aus diesen Gründen fordere ich eine ernsthafte Entschuldigung und finanzielle Entschädigung für die deportierten niederländischen Opfer und ihre Angehörigen. Es geht um die Anerkennung des Leids und der historischen Verantwortung. Eine solche Geste könnte helfen, die tiefen Wunden zu heilen, die diese schrecklichen Ereignisse hinterlassen haben. Die noch lebenden Holocaustüberlebenden sind heute 80 Jahre und älter, sie können nicht länger warten.

Ich erwarte von der Deutsche Bahn AG, dass Sie meiner erneuten Aufforderung nachkommen mit mir in Verhandlung über eine gerechte Entschädigungszahlung zu treten und dafür die notwendigen Schritte unternehmen. Bitte schlagen Sie einen Termin vor, um über die Modalitäten zu sprechen.

Herr Bundesminister Wissing, ich bitte Sie, diese Forderung zu unterstützen, sich für eine angemessene Lösung einzusetzen und die Gespräche zu begleiten. Die deutsche Regierung hat in der Vergangenheit einiges zur Wiedergutmachung beigetragen, doch es gibt immer noch offene Rechnungen und offene Wunden.

Mit freundlichen Grüßen
Salo Muller und das Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

Weitere Informationen: „Nur wer zahlt, meint es ernst!“


Die Unterzeichner*innen des offenen Briefes unterstützen die Forderung von Salo Muller nach Anerkennung des Leids und Entschädigung durch die Deutsche Bahn AG als Nachfolgerin der Reichsbahn. Wir teilen Salo Mullers Ansicht: „Nur wer zahlt, meint es ernst.” Wir fordern die Deutsche Bahn AG als Nachfolgerin der Deutschen Reichsbahn auf, die moralische und materielle Verantwortung für die Beteiligung am Holocaust durch die Deportation von Millionen Menschen in die Vernichtungs- und Konzentrationslager zu übernehmen.

Wir fordern die Bundesregierung und den Vorstand der Deutschen Bahn AG auf, mit Salo Muller und sowie seiner rechtlichen Vertretung in Verhandlungen einzutreten und eine angemessene Entschädigungsregelung zu vereinbaren.

Unterzeichner*innen:

  • Susanne Kondoch-Klockow, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees i.d. BRD e.V.
  • Ernst Grube, Überlebender der Shoah, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau e.v.
  • Horst Selbiger (*1928) für Child Survivers Deutschland
  • bruno neurath-wilson, Sohn von Willi Neurath, ehem. Häftling des KZ Neuengamme
  • Anton Sefkow (Bejarano), Enkel von Esther Bejarano, Wissenschaftler
  • Prof. Dr. M.J. Cohen, ehemaliger Bürgermeister von Amsterdam
  • R.H.L.M. van Boxtel, ehemaliger Parteivorsitzender im niederländischen Senat, ehemalig Präsident der Niederländischen Eisenbahnen, ehemaliger Minister für Integrations und Stadtplanung
  • Eva van Ingen, ehemaliges Mitglied der Kommission für Entschädigungszahlungen der niederl. Eisenbahn
  • Martin Klingner, Rechtsanwalt (von Salo Muller)
  • Miriam Block, Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft
  • Daniel Jochum, Co-Sprecher BAG Mobilität & Verkehr, B90/Grüne
  • Florian Gutsche, Cornelia Kerth für die VVN-BdA Bundesvorsitzende/r
  • Thomas Käpernick, Vorsitzender Arbeitsgemeinschaft Neuengamme
  • Chaja Boebel für das Ressort Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik IG Metall Vorstand FB Grundsatz
  • Dr. Rolf Surmann, Historiker und Publizist
  • Neithard Dahlen, Mitglied der Lagergemeinschaft-Auschwitz
  • Jonas Kühne für den Vorstand des Verbandes der Gedenkstätten in Deutschland e.V.
  • Daniela Schmohl und Tobias Kley für den Sprecher*innenrat der sächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
  • Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig
  • Heino Schomaker, Dr. Harald Schmid, Indre Schmalfeld, Christiana Lefebvre für den Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft Gedenkstätten und Erinnerungsorte in Schleswig-Holstein e.V.
  • VVN BdA Lichtenberg
  • Matthias Behring für den Landesvorstand der VVN-BdA SH e. V.
  • Markus Tervooren, Geschäftsführer Berliner VVN-BdA e.V.
  • Sven Gerstner-Nitschke  für AKuBiZ e.V., Pirna
  • Sharon Adler, Publizistin und Fotografin Berlin, Stiftung ZURÜCKGEBEN, AVVIVA Berlin
  • Sabine Bade für „Stolpersteine für Konstanz – Gegen Vergessen und Intoleranz“
  • Lars Reissmann für den Arbeitskreis Distomo
  • Dr. Olaf Kistenmacher, Hamburg / Historiker, Journalist
  • Johannes Spohr, Historiker
  • Wolfram Siede, Gewerkschaftssekretär der Schweizer Gewerkschaft des Verkehrspersonal
  • Martin Schellenberg, Einzelperson
  • Alyn Sisic, Einzelperson
  • Cornelia Siebeck, Historikerin
  • Kai Müller, Historiker und Gedenkstättenpädagoge, Berlin
  • Alexandra Senfft, Autorin 
  • Rüdiger Pohlmann, Kursleiter  für Menschen mit Behinderung
  • Heidburg Behling, Pädagogin
  • Anette Przybilla-Eisele, Auschwitz-Komitee i.d. BRD e.V.
  • Dr. Fredrik Dehnerdt, AK Neofa der VVN-BdA Hamburg
  • Sophie Lierschof, Aktivistin
  • marius giese, Friedrichskoog
  • Giorgis Fotopoulos, Filmregisseur
  • Dr. Lothar Zieske (Hamburg), Auschwitz-Komitees i.d. BRD e.V.
  • Doris Schneider, Antifaschistin und Gewerkschafterin
  • Alexander Fleischmann, Antifaschist und Pflegekraft UKE
  • Norma Fötsch, Juristin
  • Dipl.-Soz. Liane Lieske, Mitglied VVN, VEVON eV, Auschwitz-Komitee i.d. BRD e.V.
  • Candice Breitz, Künstlerin, Berlin
  • Felix Krebs, Aktivist im Hamburger Bündnis gegen Rechts
  • Johanna Wintermantel, Journalistin
  • Dr. Rosa Fava, Politische Bildnerin
  • Sevda Altintas
  • Lene Greve, Arbeitsgemeinschaft Antifaschismus Universität Hamburg
  • Franziska Hildebrandt, Hamburger Ratschlag für den 8. Mai als Feiertag
  • Susanna Harms, Politologin und politische Bildnerin, Berlin
  • Arnon Hampe, politischer Bildner