Protest-Brief von Marian Kalwary anlässlich der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA
6. Dezember 2019
Protest-Brief von Marian Kalwary
Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Jüdischen Kombattantinnen und Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkrieges
Stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der „Kinder des Holocaust“ in Polen
Mitglied des Gesellschaftlichen Beirates am Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN
Warschau, den 3.12.2019
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister Olaf Scholz,
Sehr geehrter Herr Senator Dr. Matthias Kollatz,
ich wende mich an Sie am Vorabend Ihres ersten Besuches in der Gedenkstätte des deutschen nazistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember 2019, als Überlebender der Shoah und zugleich Träger des Bundesverdienstkreuzes für besondere Verdienste für das polnisch-jüdisch-deutsche Gemeinwohl (2017), in einer dringenden Angelegenheit betreffend der Unterstützung der Bildungs- und Erinnerungsarbeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten VVN-BdA e.V. und der Verwirklichung ihrer satzungsmäßigen Tätigkeit.
Ich wurde 1930 in Warschau geboren und war bereits als Kind gezwungen, um zu überleben, in den von den Deutschen errichteten Ghettos und auch in der Zeit des Versteckens zu arbeiten, in ständiger Angst vor der Ausrottung in einem der deutschen Vernichtungslager. Im Oktober 1940 wurde ich und meine Familie gezwungen in das Warschauer Ghetto zu ziehen. Nachdem mir während der gewaltsamen Auflösung des Warschauer Ghettos die Flucht gelang, fand ich mich im Ghetto Wołomin wieder.
In dem deutschen Vernichtungslager Treblinka und eben hier im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde meine vielköpfige Familie durch deutsche Faschisten verbrecherisch ermordet.
Niemand, der die Shoah nicht erfahren hat, kann sich vorstellen, was uns Juden während der deutschen Besatzung Polens und der deutschen Verfolgung wiederfahren ist. In den Ghettos breiteten sich Krankheiten aus, insbesondere Fleckfieber. Neben dem Hunger war es die häufigste Todesursache. Die Bilder haben sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich sie mit all den tragischen Details sehen kann, wenn ich meine Augen schließe. Der erschütterndste Anblick waren die mit Zeitungen oder anderen Papieren bedeckten Leichen. Die Leichenskelette, an denen fast gleichgültig gemarterte Menschenmengen durchdrängelten. Hunderte, vielleicht sogar Tausende, Bettler, die tragisch ausgehungert waren. Im Grunde stieß die ganze Straße einen flehenden Schrei aus: „a sztikełe brot, a sztikłe brot, gib a sztikełe brot“ sowie „oc-rachmunes“. Bis heute höre ich in meinen Ohren ihre Klagen. Alle paar Meter bettelte ein Kind, im Grunde genommen das Skelett eines Kindes. Eines Kindes, dem von seinem Gesichtsausdruck allein große Augen erhalten blieben, die leblos vor sich hin starrten vor Entsetzen und Schmerz. Und jene Dutzenden von Menschen, die auf der Straße lagen, mit von Hunger geschwollenen Füßen. Die Massenhaftigkeit davon war erschreckend. Ich erinnere mich an ein armes kleines Mädchen, vielleicht 6 oder 7 Jahre alt, welches im Winter auf der auf der Treppe eines geschlossenen Ladens saß, die auf einem Stückchen Papier ein paar Schuheinlagen ausbreitete. Ich kann ihr singendes, wehmütiges Stimmlein bis heute hören: „wärmende Einlagen für Männer- und Frauen“, und so immer wieder fort. Nach einigen Tagen, war sie nicht mehr dort …
In ganz Europa, insbesondere in Deutschland und Polen, erleben wir die schreckliche Wiedergeburt des Antisemitismus und neonazistischer Gruppen. Die Attentate der neofaschistischen NSU oder der jüngste Angriff auf die Synagoge in Halle führen mich zur nachdenklichen Feststellung über den Mangel an ehrlicher Bildung über die Vergangenheit. Die Ignoranz dieser gemeinsamen Bedrohungen für alle Demokraten hat dazu geführt, dass die heutige Generation deutscher Jugendlicher vielleicht schon bald die Geschichte des Großen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg als Anlass nimmt, um auf sie mit patriotischem Stolz zurückzublicken.
Leider wird das Bild dieser negativen Veränderungen auch durch die Entscheidung des Finanzamtes für Körperschaften I des Landes Berlin ergänzt, welches am 4. November der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) e.V. den Status einer gemeinnützigen Körperschaft entzogen hat. In deren Folge wird die Weiterführung der Anstrengungen und die Existenz der VVN-BdA, der ältesten antifaschistischen Organisation in der Bundesrepublik Deutschland, ernsthaft gefährdet.
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) e.V. wurde 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Gefängnisse gegründet und ist die größte überparteiliche und konfessionslose Organisation von Antifaschisten in Deutschland, die seit Jahren die Interessen der von Nazis Verfolgten und der Widerstandskämpfer sowie ihrer Nachkommen verteidigt, sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzt und seit Jahrzehnten gegen große gesellschaftliche Widerstände dafür eintritt, dass die Bewahrung der Erinnerung an die Verbrechen des deutschen Faschismus nicht in Vergessenheit gerät.
Die Aberkennung der VVN-BdA des Status der Gemeinnützigkeit ist für mich umso schmerzhafter als diese Vereinigung und ihre Mitglieder, seit Jahren, jüdische Überlebende in Polen, die vor der planmäßigen Vernichtung gerettet wurde, die ehemaligen Beschäftigten in von Deutschen eingerichteten Ghettos, bei den Bemühungen, um die Auszahlung der ihnen aus dem gesetzlichen Sozialversicherungssystem zustehenden Ghetto-Renten, von denen sie ausgeschlossen waren, unterstützten.
Dank des Engagement der VVN-BdA und ihrer Unterstützung bei der Gründung der Initiative „Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt! hat sich im Jahr 2014 der Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestag dieser Angelegenheit angenommen.
Die Berliner Landesvereinigung der VVN-BdA hat darüber hinaus ein Rechtsgutachten angefertigt betreffend der schmerzhaften Angelegenheit, des Ausschlusses von Ghetto-Renten jener Personen, die unter 14 Jahren waren und noch als Kinder in Ghettos beschäftigt wurden (Ausschussdrucksache Nr. 18(11)818). Dank des Engagements der VVN-BdA konnte am 5. Dezember 2014 in Warschau ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen wohnhaft sind, unterzeichnet werden, welches die Zahlbarmachung von Renten für eine Beschäftigung in Ghettos nach Polen ermöglichte.
Darüber hinaus leistete die VVN-BdA einen besonderen Beitrag zur Änderung der Anerkennungsrichtlinie des Bundesfinanzministeriums (Richtlinie der Bundesregierung über eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war), die im Sommer 2017 die Auszahlung einer Entschädigung an Personen ermöglichte, die nur deshalb keinen Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhielten, weil sie aufgrund ihres Alters während der Beschäftigung im Ghetto, als Kinder, die allgemeine Wartezeit nicht erfüllen konnten.
Seit vielen Jahren setzt sich die VVN-BdA dafür ein, dass die Erinnerung an das gemeinsame tragische Schicksal der von Nazi-Deutschland verfolgten Juden und Roma nicht ausgelöscht wird. Ich freue mich deshalb, dass ich auf Einladung der Berliner Landesvereinigung der VVN-BdA am 9. November 2018 an der feierlichen Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht teilnehmen und anschließend an der Gedenkveranstaltung am Denkmal der 1938 von Nazis geschändeten Synagoge in der Levetzowstraße in Berlin und dem seit Jahren von der VVN-BdA organisierten Gedenkmarsch, teilnehmen konnte.
Ich bin beunruhigt und bestürzt darüber, dass die VVN-BdA seines Gemeinnützigkeitsstatus beraubt wurde, die für uns, Überlebende der planmäßigen Vernichtung der Juden und ihre Nachkommen, seit Jahren, ein wichtiger Partner ist in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Demokraten in Europa, bei Bildungsmaßnahmen zur Bewahrung der Erinnerung an NS-Verbrechen, ein Verbündeter im Kampf gegen Neonazismus, Antiziganismus und Antisemitismus und einen wichtigen Partner in den Bemühungen zur Übernahme der Verantwortung für die von der deutschen Gesellschaft begangenen Nazi-Verbrechen darstellt.
Ich wende mich deshalb an Sie mit der eindringlichen Bitte, die Entscheidung des Finanzamtes für Körperschaften I des Landes Berlin betreffend der Aberkennung des Gemeinnützigkeitsstatus bei der VVN-BdA erneut zu prüfen und diese Vereinigung in ihrer wichtigen Arbeit zur Bewahrung der Erinnerung an die Shoah und den Holocaust an den Sinti und Roma, bei den Bemühungen, um die Verteidigung demokratischer Werte, der Förderung der Völkerverständigung und des Gemeinwohls zu unterstützen.
Mit Hochachtung und der Hoffnung auf eine schnelle Antwort,
Marian Kalwary
Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Jüdischen Kombattantinnen und Kombattanten und Geschädigten des Zweiten Weltkrieges
Stellvertretender Vorsitzender des Verbandes der „Kinder des Holocaust“ in Polen
Mitglied des Gesellschaftlichen Beirates am Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN