Brief an Olaf Scholz von GÜNTER PAPPENHEIM, ehemaliger Buchenwald – Häftling Nummer 22514, Vorsitzender Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. anlässlich der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA
9. Dezember 2019
GÜNTER PAPPENHEIM
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Zeuthen, 24. November 2019
Sehr geehrter Herr Minister Scholz,
mein Vater, Ludwig Pappenheim, war in Schmalkalden einer der Mitbegründer der SPD, also Sozialdemokrat wie Sie. Er genoss das Vertrauen der Menschen, weil er für die Durchsetzung ihrer Interessen eintrat.Im Frühjahr 1932 wurden in unserem Wohnhaus die Fensterscheiben eingeschlagen und öffentlich wurde zum Mord aufgerufen: »Schlagt die Judensau tot!«
Am 25. März 1933 verhaftete man den Vater, ohne dass es einen Haftbefehl gab, unter fadenscheinigen Gründen und ordnete »Schutzhaft« an, trotz seiner Immunität als Abgeordneter des Provinziallandtages. Vom Gefängnis Suhl wurde er ins Gefängnis Kassel verlegt und von dort musste er in das Konzentrationslager Breitenau, von dem aus er in das KZ Neusustrum überstellt wurde. Nach Misshandlungen und Folter brachten ihn die Hitlerfaschisten am 4. Januar 1934 bestialisch um. Meiner Mutter, sie war seit 1925 aktive Sozialdemokratin, wurde es verwehrt, ihren Mann, unseren Vater, in Schmalkladen zu bestatten. Sie war fortan mit vier Kindern auf sich allein gestellt.
Ich wurde am 14. Juli 1943 nach einer Denunziation in Schmalkalden von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis Suhl gebracht, wo mich Gestapo-Beamte fünf Tage misshandelten. Von Suhl brachten sie mich in das Arbeitslager Am Gleichberg und nach kurzer Zeit war ich Häftling Nummer 22514 im Konzentrationslager Buchenwald. Am 19. April 1945 gehörte ich zu den 21.000 Überlebenden dieses Lagers und leistete an der Seite meines sozialdemokratischen Kameraden Hermann Brill den »Schwur von Buchenwald«. Dessen Kernaussage»Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.« wurde mir ebenso wie den meisten meiner Kameraden zur Lebensmaxime.
In diesem Sinne beteiligten sich meine Mutter in Funktionen und ich nach 1945 als Mitglieder der SPD aktiv am demokratischen Neuaufbau in Schmalkalden. Unser Ratgeber war Hermann Brill.Wir sahen in einer vereinten Arbeiterpartei die Möglichkeit, Voraussetzungen zu schaffen, dass es nie wieder faschistischen Terror geben wird.Viele von den Hitlerfaschisten Verfolgte organisierten sich 1947 in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN).
Dieser größten deutschen überparteilichen Verfolgtenorganisation, heute Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, wird fast fünfundsiebzig Jahre nach dem Schwur von Buchenwald vom Finanzamt für Körperschaften I des Landes Berlin die Gemeinnützigkeit entzogen, verbunden mit Steuernachforderungen in fünfstelliger Höhe und weiteren Folgerungen
Lässt sich vorstellen, wie ich mich als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos schäme, meinen Kameraden sagen zu müssen, dass wir in Deutschland, das sich rühmt, ein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat zu sein, regierungsamtlich wieder Verfolgte sind
Soll ich meinen Kameraden erklären müssen, dass die vom AfD – Funktionär, dem Faschisten Höcke geforderte »geschichtspolitische Wende um 180 Grad« jetzt staatlicherseits betrieben wird, indem mit fadenscheinigsten Begründungen der Verfolgtenorganisation die materielle Handlungsfähigkeit entzogen wird? Muss ich meinen französischen Kameraden, die den Präsidenten der Republik Frankreich veranlassten, mich als Antifaschisten zum »Kommandeur der Ehrenlegion« zu ernennen, jetzt erklären, dass in Deutschland Antifaschismus nicht gemeinnützig, weil politisch ist?
Es ist eine Schande, dass mit der Zerschlagung dessen, was wir 1945 als antifaschistischen Konsens verstanden, gewartet wurde, bis fast keine Zeugen faschistischer Verbrechen mehr vorhanden sind, um ihre protestierende Stimme erheben zu können.
Und ich muss feststellen, dass wohlklingende Forderungen in deutschen Politikerreden, die offen sichtbare Rechtsentwicklung zurückdrängen zu müssen, nicht glaubhaft sind, wenn zugleich zivilgesellschaftliche Kräfte, wie sie in der VVN-BdA, bei attac oder campact agieren, in finanzielle Fesseln gelegt werden.
Es kann Ihnen, Herr Minister, nicht verborgen geblieben sein, wie immer dreister, frecher, anmaßender, gewaltsamer und öffentlichkeitswirksamer rechtsextremistische Kräfte handeln! Unter diesen Bedingungen zielgerichtet Gegenbewegungen auszuschalten, ist nicht nur grob fahrlässig, sondern höchst gefährlich.
Ich erwarte von Ihnen und weiß mich in Übereinstimmung mit meinen Kameradinnen und Kameraden, mit sehr vielen Freundinnen und Freunden, das Sie sich kraft Ihres Amtes unverzüglich für eine Aufhebung der strangulierenden Maßnahmen einsetzen.
LAGERARBEITSGEMEINSCHAFT BUCHENWALD-DORA
OFFENER BRIEF AN DIE DELEGIERTEN
DES ORDENTLICHEN BUNDSPARTEITAGS DER SPD IN BERLIN
- BIS 8. DEZEMBER 2019
Geehrte Delegierte des Ordentlichen Bundesparteitages der SPD,
als Mitglieder der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e. V. grüßen wir Sie.
Vorsitzender unserer Lagerarbeitsgemeinschaft ist Günter Pappenheim, ehemaliger Buchenwald – Häftling Nummer 22514. Er ist zugleich Erster Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos und Mitglied des Ehrenpräsidiums der Fédération Internationale des Résistants.
Sein Vater, Ludwig Pappenheim, war Mitbegründer der SPD in Schmalkalden. Dieser aufrechte Sozialdemokrat gehörte zu den ersten Opfern der Nazis, sie ermordeten ihn im Januar 1934 im KZ Neusustrum.
Mitglieder der Lagerarbeitsgemeinschaft sind heute Kinder, Enkel, Angehörige ehemaliger Häftlinge sowie Menschen, denen es ein Bedürfnis ist, das Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands zu bewahren.
Die Kernaussage des Schwurs von Buchenwald, geleistet von 21.000 Überlebenden am 19. April 1945,
»Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.«
war für viele der ehemaligen Häftlinge zur Lebensmaxime geworden. Wir sehen heute, gerade unter den Bedingungen immer sichtbarer werdender neonazistischer Gefahren, zu diesen Aussagen keine vernünftige Alternative.
Dabei befinden wir uns in völliger Übereinstimmung mit den Freundinnen und Freunden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Dass dieser bedeutendsten Verfolgtenorganisation durch das Finanzamt für Körperschaften I des Landes Berlin die Gemeinnützigkeit entzogen und Steuernachforderungen erhoben wurden, was einem nicht ausgesprochenen Verbot gleicht, empört uns zutiefst. Wir fühlen uns in keiner Weise »linksextremistisch beeinflusst«, wie in Verfassungsschutzberichten des Landes Bayern wahrheitswidrig behauptet und als Begründung für diese Entscheidung vom Finanzamt für Körperschaften I des Landes Berlin kopiert wird.
Insbesondere auch deshalb, weil der 2010 durch den Parteivorstand der SPD aufgehobene Nichtvereinbarkeitsbeschluss von 1948 es SPD-Mitgliedern gestattet, Mitglied der VVN-BdA zu werden.
Wir wissen, dass auf Ihrem Parteitag bedeutsame politische Entscheidungen zu treffen sind und dass Ihre Losung IN DIE NEUE ZEIT sehr hohe Ansprüche stellt.
Ginge von Ihrem Parteitag ein wirksamer Impuls aus, der darauf gerichtet ist, das durch den Entzug der Gemeinnützigkeit für die VVN-BdA entstandene Unrecht unverzüglich zu korrigieren, könnte das als solidarisches Signal für die Zivilgesellschaft verstanden werden, die Anstrengungen zur Zurückdrängung von Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und rechter Gewalt zu verstärken.
Ihnen und dem Parteitag viel Erfolg wünschend verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen
Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald-Dora e.V.
Berlin, am 6. Dezember 2019
LAGERARBEITSGEMEINSCHAFT BUCHENWALD-DORA e. V.
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